Es gibt Tage, an denen ich mich selbst nicht verstehe. Tage, an denen ich rastlos bin, während andere einfach im Moment verweilen können. Mein Freund ist so jemand. Er kann allein sein, ohne dass es ihn belastet. Ich hingegen brauche Bewegung, Begegnungen, Ablenkung – als würde die Stille in mir ein Echo hinterlassen, das ich nicht ertragen kann.
Wir sind uns so ähnlich und doch grundverschieden. Wir lieben dieselbe Musik, teilen dieselben Werte, haben denselben Beruf, träumen von derselben Zukunft. Aber wenn ich in unsere Agenda schaue, sehe ich nicht nur Termine, sondern auch eine Kluft. 100 Kilometer Entfernung, Schichtarbeit, kein Auto – alles muss organisiert werden. Doch während ich jede Lücke meines Wochenendes mit Plänen fülle, um bloß nicht allein zu sein, macht er das Gegenteil. Er lässt Raum für sich selbst.
Heute ist Samstag, 29.03.2025, 14:05 Uhr. Vor einer Stunde ist er zur Arbeit gegangen und ich sitze hier. Ich könnte aufstehen, die Wohnung aufräumen, mich ablenken – doch ich tue es nicht. Ich bin gefangen in meinen Gedanken, drehe mich im Kreis.
„Weißt du, Michelle, ich habe keine Probleme damit, Zeit mit mir selbst zu verbringen.“
Seine Worte hallen in mir nach. Und plötzlich verstehe ich: Nicht er verpasst etwas – vielleicht bin es ich. Ich dachte, meine Pläne würden mich lebendig machen, aber in Wahrheit laufe ich nur davon. Ich hetze von Erlebnis zu Erlebnis, doch wenn der Moment kommt, ist die Euphorie längst verflogen. Und dann beneide ich ihn. Um seine Fähigkeit, einfach zu sein, ohne sich zu rechtfertigen. Ohne die ständige Angst, etwas zu verpassen. Ohne das nagende Gefühl, beweisen zu müssen, dass man dazugehört.
Vielleicht ist das mein größtes Problem: Ich weiß nicht, was Glück für mich bedeutet. Ich folge einer Vorstellung, die mir von außen gegeben wurde – dass Glück in den Dingen liegt, die man tut, in den Erlebnissen, die man sammelt. Aber was, wenn das gar nicht stimmt? Was, wenn Glück nichts mit Geschwindigkeit zu tun hat, sondern mit Ruhe? Was, wenn es nicht darum geht, ständig unterwegs zu sein, sondern darum, bewusst da zu sein – mit anderen oder mit sich selbst?
Ich frage mich: Wer von uns beiden verpasst wirklich etwas? Er, der die Stille aushält, der sich selbst genug ist? Oder ich, die rastlos durch das Leben rennt, aus Angst, es könnte sonst an ihr vorbeiziehen? Vielleicht ist es an der Zeit, nicht nur darüber nachzudenken, sondern es wirklich herauszufinden. Vielleicht sollte ich es ausprobieren – einen Tag ohne Pläne, ohne Ablenkung. Einfach sein. So wie er.
Aber was mache ich dann mit dieser Zeit? Vielleicht spaziere ich los, ohne Ziel, einfach um zu sehen, wohin mich meine Füße tragen. Vielleicht setze ich mich mit einem Buch ans Fenster und lasse mich treiben, ohne ständig auf die Uhr zu sehen. Oder vielleicht tue ich einfach gar nichts – und schaue, was passiert, wenn ich die Stille nicht mehr als Bedrohung empfinde, sondern als Möglichkeit, mich selbst kennenzulernen.